Gedanken zu Corona

 Was mich von Anfang an beeindruckt hat, ist dass sich neben der normalen Welt sofort eine Corona-Parallelgesellschaft entwickelt hat. Und damit meine ich keine besondere Gruppe, sondern damit meine ich alles.

Zeitungsartikel schossen aus dem Boden wie nichts. In einer Ausgabe unserer Regionalzeitung gab es tatsächlich von allen Artikeln, die ich gesehen habe, keinen einzigen, indem es nicht irgendwie um Corona ging. Selbst die Verbrechen hatten mit Corona zu tun – Rentner von Jugendlichen angespuckt.

Entschließt man sich dann und wann trotz aller guten Vorsätze, sich doch mal ein Meinungsbild in sozialen Netzwerken einzuholen oder sich in eine Diskussion zu stürzen, kann es passieren, dass man sich wochenlang davon erholen muss, alles neu ordnen, neu sortieren muss, zumindest mir geht es so.

Was ich selbst in den Nachrichten höre, durch Austausch mitbekomme und mir an Gedanken mache, ist für mich recht überschaubar. Ich meine, mir von dem, worauf ich den Fokus gelegt habe, auch ein recht gutes Bild machen zu können. Mich haben von Anfang an die gesellschaftlichen Zusammenhänge interessiert und fasziniert. Für den Liebhaber von gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Prozessen ist es überaus spannend, was gerade passiert und kann im „Kleinen“ klarer machen, was Tag für Tag im Großen passiert. Natürlich ist auch Corona längst „groß“ geworden. Es kommt ja nicht von ungefähr, dass es einen total erschlagen kann, ein paar Artikel zu dem Thema zu lesen oder Twitter zu öffnen. Aber dennoch ist es kleiner als unsere eigentliche Welt mit all ihren gesellschaftlichen Themen und manche Dynamiken treten deutlicher hervor, werden offensichtlicher.

Es ist auf Twitter interessant zu sehen, wie verschieden man den Schwerpunkt legen kann, wie verschieden die Artikel sind, die die Leute posten, wie verschieden die Punkte sind, mit denen sie sich auseinandersetzen, um die sie sich sorgen.

Manches davon ist für mich sehr nachvollziehbar und ich bin erleichtert, wie viele Menschen dahingehend um Gehör kämpfen oder wie vielen Menschen das bewusst ist. Anderes ist mir und meiner Realität so fern, dass ich oft schlucken und mich um Verständnis bemühen muss. Ich will hier nicht ins Detail gehen, das soll einem anderen Artikel vorbehalten sein, falls ich mich denn dazu entscheide, mehr zu dem Thema zu schreiben.

Es fällt mir nach einer solchen Twitter-Eskapade in der Regel schwer, mich nicht zu zerstreuen und den Fokus zu verlieren. Bei mir zu bleiben. Manches an neuen Beobachtungen, Informationen und Gedanken nehme ich dankbar mit, anderes integriert sich nach und nach von alleine, wieder anderes, versuche ich, hinter mir zu lassen. Kein einzelner kann so viel Wissen, Unwissen und persönliche Meinungen in sich aufsaugen und verarbeiten.

Aber das müssen wir auch nicht. Was bei alldem viel zu sehr verloren geht ist, dass wir als Gemeinschaft alles können und alles wissen. Nicht ein einzelner muss alles verstehen. Alles können. Alles wissen. Wichtig ist nur, dass wir an einem Strang ziehen.

Auch hier gehe ich an dieser Stelle nicht ins Detail.

Ich für mich merke, dass der Punkt, der für mich im Moment am Deutlichsten hervortritt, wenig bis keine öffentliche Beachtung findet, nämlich der, dass die intellektuellen Debatten vorbei an der Realität vieler Menschen geführt werden und dass Nicht-Intellektuelle keine öffentliche Stimme haben.

Vermutlich auch deshalb sind manche Twitter-Debatten ein regelrechter Kulturschock für mich. Aus einer Arbeiterstadt kommend, erlebe ich hier alles, aber nicht das, was dort erlebt und diskutiert wird. Es ist manchmal ein wenig wie Marsmenschen beim Baden zuzusehen.

Erst durch Twitter merke ich, wie verschieden das Erleben in dieser Zeit ist. Denn natürlich ist auch das Erleben von mir und meinem Umfeld verschieden, aber all das habe ich nach und nach durch Gespräche in mein Corona-Weltbild integriert. Und so sehr unterschied es sich dann doch nicht.

Aber dass Leute sich beim Impfen vordrängeln. Leute, die gefühlt niemals aufhören, andere als Unsolidarische zu beschimpfen. Die keine Argumente, keine Bedenken zulassen und dabei selbst immer egoistischer und unsolidarischer wirken… andere dann noch als dumm bezeichnen, während sie selbst noch am Schreien sind…

Ich will nicht in die selbe Kerbe schlagen. Weder will ich von „wir“ und „die“ sprechen, noch will ich Menschen, die ich nicht kenne, der Unsolidarität bezichtigen oder zu viel darauf geben, was ich irgendwo gelesen habe. Meiner Erfahrung nach sind die Menschen in echt dann in der Regel doch umgänglicher und Fake-Accounts eher ausgeschlossen.

Trotzdem schockiert es mich und an-der-Menschheit-zweifelnde Tendenzen flammen leidenschaftlich wieder auf. Interessanterweise geht es vielen so gerade, aber jedem aus anderen Gründen. Wie munter sich auf Twitter alle gegenseitig als Intelligenz-Allergiker bezeichnen, wäre wirklich komisch, wenn es nicht so dramatisch wäre.

Als Beobachter dieses ganzen Spektakels hätte man sicher seinen Spaß. Ich kann jeden verstehen, der sich ab und an zurücklehnt und das ganze Schauspiel einfach nur genießt. Schließlich ist es auch das einzige Theater, das man derzeit besuchen kann und das auch noch ganz kostenfrei!

Aber um zum Thema zurückzukommen: Solange in diesem Land Zwei-Klassen-mäßig diskutiert wird und sich Akademiker über Nicht-Akademiker stellen, werden wir Probleme haben. Es kann nicht sein, dass ein Großteil der in diesem Land lebenden Menschen nicht ernstgenommen und nicht gefragt wird, während alles auf ihrem Rücken ausgetragen wird. Ich selbst muss mir wohl eingestehen, dass ich meinen Leuten gegenüber solidarischer hätte sein können in meiner Studentenzeit, aber wenn ich es da verpasst habe, so bin ich es jetzt,

Was wünsche ich mir eine gerechte Welt, seit ich ein kleines Kind bin und wie sehr begrüße ich es, dass die Welt endlich weniger sexistisch, weniger rassistisch und umweltbewusster wird. Wie beeindruckt bin ich von der Jugend, dass sie sich von der Politik nicht verarschen lassen und wie froh bin ich, dass nun Sexismus und Rassismus endlich öffentlich kritisiert werden.

Aber die Art und Weise, wie das geschieht, gefällt mir immer weniger… Und ich kann die Kritik daran immer besser verstehen, auch wenn ich die Art, wie diese Kritik vorgebracht wird, in vielen Fällen nicht gutheiße und die Motive vielleicht auch oft nicht allzu edel sind. Aber das steht nochmal auf einem anderen Blatt. Was momentan abgeht, hat was Elitäres, Ausgrenzendes, und was ich als einen Teilprozess absolut akzeptieren kann, dahinter kann ich als gesellschaftliche Entwicklung nicht stehen.

Es kann nicht sein, dass Menschen alles genommen wird zum Wohle eines „höheren Zwecks“, der, durch Zwang erreicht, überaus fraglich ist. Zumal sich die Geister scheiden darüber, was für den höheren Zweck am besten ist, und wenn sich die Geister nicht mehr scheiden dürfen, nun ja…

Noch vor Kurzem dachte ich: „Haja, Leute, die als rassistisch bezeichnet werden, äußern sich auch zumindest latent rassistisch.“

Aber so einfach ist es eben nicht. Und ja, es ist einfach, einfache Lösungen zu suchen, aber damit verleugnet man eben menschliche und gesellschaftliche Komplexität und das kann früher oder später nur nach hinten losgehen.

Vielleicht sind wir eine Generation, die das Diskutieren nie gelernt hat. In den goldenen Jahren des Kapitalismus aufgewachsen, war in unserem Leben ja alles immer Friede, Freude, Eierkuchen, mit Konfetti überzogen und gold besprenkelt. Worüber Debatten führen? Sicher gab es Probleme, aber die wenigsten von uns haben sie am eigenen Leib erlebt, und die, die es haben, führen solche Debatten nicht.

Ich will, dass man diskutiert über Political Correctness, über Gendern, über diskriminierende Begriffe… Ich will, dass ALLE gehört werden: Die alten weißen dialektsprechenden Männer, die schwarzen Arbeiterjungs aus den Vororten, die Roma-Mädels und die Gemeinderäte mit Spastik. Ich will, dass ALLE gehört werden und nicht einige wenige. Und ich weigere mich, mir von intellektuellen PoCs sagen zu lassen, wie ich mit dem Kindergartenfreund meiner Brüder zu reden habe und ich weigere mich, mir von Leuten mit oder ohne Behinderung sagen zu lassen, wie ich mit meinen ehemaligen Klienten mit Lähmung und Spastik zu reden habe.

Ich weigere mich, mir von Akademiker-Frauen sagen zu lassen, wie ich mit Sexismus umzugehen habe, was mich ein bisschen und was mich besonders zu verletzen hat und ich weigere mich, mir von einer selbsternannten Sittenpolizei sagen zu lassen, was ich lustig zu finden habe und was nicht. So wie jeder von uns sich ärgert, wenn sich Fremde in die Erziehung oder sonstwas einmischen, so ist es auch hier.

Viele dieser Debatten sind wichtig. Und ich verstehe jeden, der sein Leben lang Ausgrenzung und Vorurteile erfahren hat, und einfach nur scheiß-wütend ist und froh, dass das Blatt sich endlich wendet.

Aber lasst dieses Blatt nicht zu einem Scheiß-Blatt werden. Irgendwann muss man sich vermutlich versöhnen oder man muss sich einige wenige auserwählte Menschen suchen.

Menschen sind scheiße. Eine Bemerkung, die mich sehr zum Nachdenken gebracht hat, aus dem Buch „Liebespaarungen“ von Lionel Shriver: „Ich bin der festen Überzeugung, dass schöne Menschen optimistischer sind. Sie denken, alle Menschen wären nett und begreifen nicht, dass die Menschen nur nett zu ihnen sind, weil sie gut aussehen. Als hässlicher Mensch weiß man, wie gemein viele Menschen sind, und wundert sich darüber auch nicht.“ (sinngemäß widergegeben.)

Die Beschreibungen von „schön“ und „hässlich“ entsprechen nicht meiner Denk- und Ausdrucksweise. Aber ich finde, gerade durch diese Ausdrucksweise wird es nochmal pointierter. Und ich denke, es lässt sich anwenden, auf jedes Erleben von „Anderssein“.

Dementsprechend ist es für viele von uns klar, dass wir dem „alten weißen Mann“ die Deutungshoheit wegnehmen müssen. Und natürlich muss man unterscheiden zwischen verletztem Stolz und reiner Bequemlichkeit, wenn von der Seite Aufbegehren kommt, und zwischen ernsthaften Ängsten und Bedenken. Aber es kann nicht sein, dass alle Ängste sofort abgewiegelt werden. Und es ist halt nun mal ein riesiger Unterschied, ob jemand sagt: „Hahaha, Rassismus. Das gibt’s nicht. Zigeunerschnitzel olé.“ oder „Ich will meine Sprache nicht verlieren. Ich will meine Erinnerungen nicht verlieren. Ich erkenn‘ mein Leben gar nicht wieder. Ich hab Angst, dass es sich auf unschöne Art verändert. Ich will mich frei fühlen, will frei sprechen und denken können.“

Die Chance, dass jemand, der Zweiteres meint auch Zweiteres sagt ist höher, wenn man ihm die Chance gibt, es zu sagen. Wenn man auch seine Ängste anerkennt, sich seine Argumente anhört und bereit ist, über sie nachzudenken, auch ihn wahrnimmt.

Sicher, für viele von uns ist es schwer, das zu tun. Denn wie viele von uns sind von solchen Männern angegrapscht worden, als Neger beschimpft worden, wie viele von uns waren ihrer munteren gedankenlosen Arroganz jahrelang ausgeliefert…

Aber da heißt es wohl nur: Besser machen. Wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein.

 

 

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